Zuckersüß 493: food media, Faschismus, Film

karl-marx-hof wien
der Karl-Marx-Hof in Wien

mit wenig Gebackenem, einem Restaurant in München (Obalski), einer Ausstellung (Käthe Leichter im Waschsalon), zwei Strickprojekten (Seascape Stole, Sidelines Cardigan) – und wie immer, den besten Links der letzten Wochen.

Seit dem letzten Zuckersüß habe ich Cheddar-Scones (minus Apfel, nach diesem Rezept von vor einem Jahr), Glücksschwammerl (nach diesem Rezept von 2010) gebacken.

Gegessen

Kaiserschmarrn. Ofengemüse mit senfigem Joghurt. Bittersalat mit Blutorange, gebratenen Kräuterseitlingen und hauchdünnen rote-Bete-Scheiben, selbstgemachte Pasta (11 Eigelb auf 300 g Mehl), mit Butter, Parmesan und Périgord-Trüffel, Tiramisu (nach Nicola Lamb, extrem – vielleicht zu – luftig) bei Freund_innen in München.

Waffeln mit Kumquatmarmelade und frischen Kakis. Vier Pfefferbrezen.

Obalski

Einmal fast alles im großartigen Obalski in München. Eklektisches Bistrokonzept am Puls der Zeit, ich schreib noch drüber (wirklich!).

Gesehen

Aus der uralt-DVD-Kiste: Mission Impossible 1 (es vergeht der halbe Film bis die charakteristische Theme-Musik einsetzt?!) und The Transporter 1 (ein Werbefilm für BMW??). Im Stream: Back to Black (traurig).

Das Grammophon vom Urgroßvater eines Freunds. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal *so* gebannt auf ein Gerät gestarrt habe, wie auf dieses kurbelbetriebene Holzkastl – wie magisch muss diese (zugegeben, blecherne) Erfahrung vor 100 Jahren gewesen sein? Die Spielzeit der Schellackplatten ist ziemlich kurz, wir hörten Hans Moser (den ich nur von seiner Reblaus kenne) und Richard Wagner.

Käthe Leichter im Waschsalon

Sonntagnachmittag hab ich einen Ausflug ins Rote Wien gemacht, genauer gesagt in den Waschsalon im Karl-Marx-Hof (s. Titelbild). Dort läuft zur Zeit (bis 1.3.26) eine Sonderausstellung über das Leben von Käthe Leichter – Wiener Gewerkschafterin, Sozialdemokratin, Frauenrechtlerin. Geboren 1895 als Marianne Katharina Pick in eine wohlhabende jüdische Familie, solidarisiert sie sich als Jugendliche mit den Hausangestellten und gibt bald Nachhilfeunterricht für (vernachlässigte) Arbeiterkinder. Rechtswissenschaften darf sie als Frau nicht studieren, stattdessen werden es Staatswissenschaften – bis zum Doktorat bei Max Weber in Heidelberg.

Dieses Zitat fand ich spannend, es klingt wie die 100 Jahre alte Version von Kritik am Girlboss-Feminismus:

„Zur Frauenbewegung habe ich nie ein rechtes Verhältnis gehabt. […] Ihr Kampf bestand darin, Reformkleider zu tragen, bei dem Wort Mann mitleidig zu lächeln […]. Sie jubelten auf, wenn eine Frau irgendwo in der Welt Professor oder Ministerialrätin wurde […]. Daß es nicht nur um die Heraushebung einzelner Bevorrechteter, sondern um die Hebung der so schlecht gestellten Frauenarbeit überhaupt ging, übersahen sie.“

Ausstellungstafel Käthe Leichter im Waschsalon

In der sozialistischen Studentenbewegung lernt sie Otto Leichter kennen und heiratet ihn 1921. Erstaunlich finde ich die Anekdote, dass Käthes Ehemann am Tag nach der Geburt ihres ersten Kindes einen pro-choice-Leitartikel in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichte, und die frische Mutter offenbar sehr stolz auf diese Aktion war.

Es sei Barbarei, „arme werdende Mütter mit der Drohung von Kerkerstrafen zum Gebären zu zwingen, ihnen aber, wenn sie geboren haben, jede Hilfe zur Aufziehung ihrer Kinder zu verweigern“

Ausstellungstafel Käthe Leichter im Waschsalon

Käthe arbeitete inzwischen bei der Arbeiterkammer und führte die ersten systematischen Erhebungen von Frauenarbeit durch (daher auch der Ausstellungstitel). Ihren Posten verlor sie genau wie ihr Mann seine Redakteursstelle bei der Arbeiter-Zeitung nach dem Bürgerkrieg 1934. Sie zogen nach Mauer vor Wien, um dort weniger politisch exponiert zu sein, wurden dennoch polizeilich beobachtet. 1936 hielt Käthe einen Vortrag, der angesichts der gegenwärtigen politischen Situation Österreichs gruselig zeitgemäß wirkt:

„Der Faschismus ist wohl die Herrschaftsform des Großkapitals, aber seine Träger, die ihm zur Macht verhlefen, sind radikalisierte Kleinbürger, deklassierte Mittelschichten, aus dem Arbeitsprozeß geworfene Proletarier. […] Ihren kleinbürgerlichen reaktionären Instinkten, aber auch ihren antikapitalistischen Ressentiments muß er entgegenkommen.“

Ausstellungstafel Käthe Leichter im Waschsalon

Käthe Leichter wurde schließlich im Mai 1938, einige Wochen nach Österreichs „Anschluss“, verhaftet, 1940 nach Ravensbrück deportiert und zwei Jahre später in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Bernburg an der Saale vergast.

Für die Dauerausstellung hätte ich vermutlich nochmal eineinhalb Stunden gebraucht, die hatte ich aber nicht, also werde ich einfach irgendwann mal wieder nach Heiligenstadt fahren und in den Waschsalon gehen.

Gestrickt

Weiter an der Seascape Stole, und bald die Hälfte des Sidelines Cardigan (nach sosu), den ich vergangene Woche angeschlagen habe.

Veröffentlicht

Im Blog: Jahresrückblick 2024 (voller händischer Statistiken)

Anderswo: Nix.

Hier folgen meine liebsten Links der letzten Tage:

Rezepte

So gelingt die Tarte Tatin von Wolfgang Kuchler – Das Filet
Ein sehr aufwendiges Projekt. Mit Mürbteig (!).

Der beste Schoko-Dreikönigskuchen – Rezept von Streusel
Wieso hat jede Gegend einen eigenen Dreikönigskuchen, nur meine nicht?

Stroop Tart – by Marie Havnoe Frank – More Than Sweet
Schaut die gut aus!

Texte

The best and worst of London food (media) in 2024 – Vittles
Texte wie dieser bringen mich immer wieder knapp dazu, Vittles zu abonnieren (59 Pfund, schon ganz schön teuer). Aber was soll ich mit einem dezidiert lokalen Londoner Food-Medium?

This year has also seen the biggest transformational shift in British food media within my lifetime. The most influential archivists of London’s food are now Gobble PR and Jolly, a YouTube duo with 4.2 million followers whose videos depict amazed British people pretending to eat Five Guys for the first time for the benefit of Americans – an act of treason that would, in happier times, see them sent to Tyburn. Meanwhile, three of what would have historically been the most influential positions in London food media – the Observer restaurant critic, the Evening Standard restaurant critic, and the editor of Observer Food Monthly – are either vacant or abolished, with no clarity on whether these jobs will continue to exist in 2025. This radical transfer of power – from traditional to social media, from guys who went to public school to guys who went to slightly less impressive public schools – is now complete.

Kaisergranat, König der Verwechslung – eine kulinarische Aufklärung — Trois Etoiles
Wieder was gelernt.

Nur in seltenen Fällen belässt man die Zutat bei ihrem deutschen Begriff. Kaisergranat klingt für viele Gäste unbekannt und wenig spektakulär. Die Synonyme »Norwegischer Hummer« oder »Kaiserhummer« sind noch sperriger. Daher bedient man sich oft fremdsprachlicher Bezeichnungen. Die klingen exotisch und suggerieren einen Hauch von Luxus. Hierbei passieren die größten Fehler.

Casual Viewing – n+1 (via Wolfi Flip the Truck)
Dieser Longread hat einen beinahe beleidigten Ton drauf, aber wer Film liebt, kann mit dem, was Netflix hauptsächlich raushaut, nur grantig werden.

I’ll call it the Typical Netflix Movie (TNM). From the outside, the TNM looks algorithmically constructed, as if designed to cater to each of Netflix’s two thousand “taste clusters,” the genre-like groupings Netflix uses to segment its audience, green-light programs, and recommend films and shows to subscribers. The TNM covers every niche interest and identity category in existence, such as a movie about a tall girl, Tall Girl, but also Horse Girl, Skater Girl, Sweet Girl, Lost Girls, and Nice Girls. Seemingly optimized for search engines, the title of a TNM announces exactly what it is — hence a romantic comedy about a wine executive called A Perfect Pairing, or a murder mystery called Murder Mystery

Mord als Meme – netzpolitik.org
Der Polizist hatte *was* an???

Für die Schriftstellerin Joyce Carol Oates ist das übertriebene Geleit ein Zeichen dafür , dass die Vollzugsbeamten ebenfalls auf der Bühne stehen wollten. Unter anderem der wegen Korruption beschuldigte New Yorker Bürgermeister Eric Adams setzte sich mit strengem Blick hinter dem Gefangenen in Szene. Einer der beiden Beamten des New York Police Departement, die Mangione während des Perp Walk flankierten, trug limitierte Sneaker – von Virgil Abloh designte Off-White x Air Jordan 5 „Muslin“ – eine auffällig trendige Wahl für das Justizspektakel.

Mein Vormieter Max Anschel (1): Mein Vormieter, ermordet im KZ Stutthof 1944 – taz
Als ich diesen (irgendwie seltsam saloppen) Text gelesen habe, musste ich alle anderen Teile auch lesen. Und bin dann gleich noch in ein Yad Vashem-Rechercheloch gefallen. Sehr schlimm.

Wenige Stunden später habe ich sie per Mail vorliegen: darunter seine „Todesbescheinigung“, unterschrieben vom Lagerarzt des KZ Stutthof, einem „SS-Obersturmführer“ mit unleserlicher Unterschrift, der angibt, dass „Max Israel Anschel“ am 22. 11. 44 um 12.30 Uhr an „Herzmuskelschwäche“ gestorben sei. „Israel“ war nicht der Zweitname von Max Anschel – er wurde alle Juden von den Nazis zwangweise aufgedrückt.

AfD: „Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD“ – ZEIT (via kathrinkuehn auf bsky)
Beunruhigende Kontinuitäten:

Cantoni: Man sieht, dass es eine starke Korrelation gibt zwischen den Orten, in denen in den Dreißigerjahren vermehrt NSDAP gewählt wurde, und Orten, in denen heutzutage stärker die AfD gewählt wurde.

Inspired by ISIS: From a Taylor Swift plot in Vienna to carnage in New Orleans – The Washington Post (archive.ph ohne Paywall)
Immer Männer.

Jabbar’s precise motivations are currently unknown. But in many of the recent cases, the perpetrators appear to have been driven less by ideology or politics than by rage over personal failings, terrorism experts say. The suspects may have little or no direct contact with the Islamic State. Yet the group is still a potent source of radicalization — and a convenient excuse, in the attacker’s mind, to justify violence.

Audio/Video

Autoritäre Zeitenwende im Zeitraffer – media.ccc.de
Chris Köver und Anna Biselli von netzpolitik.org mit einem innenpolitischen Rückblick auf die Ampel-Koalition.

EP01 – Der Thronfolger (mit Melika Foroutan) – Plus Ultra – Der Weg in den Dreißigjährigen Krieg
Dieser Podcast hat mich in dieser ersten Folge gepackt, und immer wieder ob seiner Blockbusterfilm-Soundbetten und großen Theatralik irritiert. Das passiert also, wenn man die Essenz eines erfolgreichen Indie-Podcasts mit der Fernsehsender-Podcastwelt verbindet.

Sonst So

Jeremy R. Brooks – Elastic Clay
Dieser Künstler strickt und häkelt mit elastischem Ton/Porzellan, wow!

Backkatalog



Hi, ich bin Jana.
Seit 2009 veröffentliche ich hier wöchentlich Rezepte, Reiseberichte, Restaurantempfehlungen (meistens in Wien), Linktipps und alles, was ich sonst noch spannend finde. Ich arbeite als Podcastproduzentin und freie Kulinarikjournalistin. Lies mehr über mich und die Zuckerbäckerei auf der About-Seite.

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Im Zuckersüß sammle ich (fast) jeden Sonntag meine liebsten Links der Woche: Rezepte für die Nachback-Liste, lesenswerte Blogposts, Zeitungsartikel und Longreads, Podcasts oder Musik, die mir gerade gefällt und oft genug auch Internet-Weirdness. Außerdem schreibe ich auf, was ich sonst so interessant fand: neue Rezepte in meiner Küche, Lokale, in denen ich gegessen, Pullover, die ich gestrickt oder Texte, die ich geschrieben habe.