Das Konzept gendersensible Stadtplanung war mir schon länger ein Begriff, was vermutlich nicht unwesentlich mit meinem Wohnort zu tun hat. Wien wird in diesem Zusammenhang quasi immer als Vorbild genannt, weil gender mainstreaming hier schon seit den 1980ern fester Teil der städtischen Bauprozesse ist (die Stadt hat 2013 einen Werkstattbericht dazu herausgegeben). Das bedeutet, dass die Bedürfnisse von Frauen in der Planung mitgedacht werden, von recht offensichtlichen Aspekten wie heller Straßenbeleuchtung, die das Sicherheitsgefühl erhöhen können, bis hin zu komplexeren, z.B. der Tatsache, dass Frauen statistisch eher nicht mit dem Auto in der Stadt unterwegs sind, und Autovorrang sie so als ganze Gruppe benachteiligt. Im Guardian erschien 2019 mal ein langer Artikel über Wien als city with a female face.
Und was stellt sich Leslie Kern unter einer feministischen Stadt vor?
„For me, to take a feminist stance on cities is to wrestle with a set of entangled power relationships. Asking ‚women’s questions‘ about the city means asking about so much more than gender. I have to ask how my desire for safety might lead to increased policing of communities of colour. I have to ask how my need for stroller access can work in solidarity with the needs of disabled people and seniors. I have to ask how my desire to ‚claim‘ urban space for women could perpetuate colonial practices and discourses that harm the efforts of Indigenous people to reclaim lands taken and colonized. Asking these kinds of questions requires an intersectional approach and some level of self-reflection on my own position.“
Seite 17
Und, konkreter:
„A feminist city must be one where barriers-physical and social are dismantled, where all bodies are welcome and accomodated. A feminist city must be care-centred, not because women should remain largely responsible for care work, but because the city has the potential to spread care work more evenly. A feminist city must look to the creative tools that women have always used to support one another and find ways to build that support into the very fabric of the urban world.“
Seite 54
Geschlechterrollen und die Stadt sind eng verzahnt, zum Beispiel legen Frauen tendenziell weit komplexere Strecken im Alltag zurück, als Männer das tun: von daheim zum Kindergarten, zur Schule, in die Arbeit, zur Schule, zum Kindergarten, vielleicht noch zum Kinderarzt, zum Supermarkt und zur Oma, für die miteingekauft wird. Ein Großteil der Männer dagegen fährt morgens zur Arbeit und abends zurück, und auf diese lineare rush-hour-Pendelei sind auch die meisten Öffis ausgelegt. Das heißt, die Frauen, die sich eh schon um viel mehr kümmern müssen, müssen dann oft auch noch länger warten, weil sie dann durch die Stadt unterwegs sind, wenn die Öffi-Intervalle nicht so dicht sind. Überhaupt, mit Kinderwagen sind viele Strecken viel schwieriger zurückzulegen, denn es müssen Bordsteinkanten, Treppen oder Bus-Einstiege überwunden werden.
In den Vororten (die, zugegeben, in Nordamerika ausgeprägter sind als bei uns) ist die Situation noch schlimmer, alles ist weitläufiger, und vor allem auf die Kernfamilie (mit der Frau als Haupt-„Kümmerin“) ausgelegt. Leslie Kern widmet sich deshalb in einem ganzen Kapitel der transformativen Kraft der Freundschaft, die care-Arbeit jeglicher Art wesentlich erleichtern kann, und doch gesamtgesellschaftlich nicht sehr viel zählt. Das ist auch in Beton gegossen:
„It’s also no secret that addressing households that don’t align with the nuclear family model or ‚typical‘ life course–moving in a linear fashion from being single, to getting married, having kids, and finally being empty nesters–is rare in planning and city politics“
Seite 81
Sie argumentiert, dass Freundschaft in der Stadt einfacher zu pflegen ist als in dünn besiedelten Gegenden, da man sich potentiell öfter im Alltag über den Weg läuft, und wieder, die Strecken kürzer sind. Gleichzeitig sind Frauen-Freundschaften in der Stadt essentielle Infrastruktur der persönlichen Sicherheit – nachts gemeinsam unterwegs sein, vom Zielort eine „Ich bin gut angekommen“-SMS schicken o.Ä. hilft mit den geschlechterspezifischen Gefahren der Stadt (seien es tatsächliche oder gesellschaftlich konstruierte, internalisierte) umzugehen.
Im nächsten Kapitel, City of One, habe ich mich selbst wieder erkannt, und zwar in unangenehmen Kontext:
„I love having my headphones and music with me in the city, too, but for me and many other women, they provide more than a form of entertainment. They may be small, but they create a social barrier against the all-too regular and almost always unwanted intrusions of men. It’s impossible to know how many unvelcome conversations and incidents of street harassment I’ve avoided or been unaware of because of my headphones. I can however, think of times when a little set of white earbuds might have saved me from humiliating and deeply sexist encounters.“
Seite 88
Genau aus diesem Grund wurden Kopfhörer mit Musik zu meinem alltäglichen Begleiter, als ich 2014/15 in Rabat gewohnt habe. Das ständige „pspsps“ und ähnliches catcalling von irgendwelchen Männern auf der Straße habe ich dann zumindest nicht mehr gehört. Eine feministische Stadt laut Leslie Kern erlaubt es allen Menschen, alleine sein zu können und zu jeder Tages-/Nachtzeit ungestört ihrem eigenen Weg nachzugehen. Das betrifft natürlich nicht nur Leute wie mich – junge, weiße Frauen – sondern auf ganz andere Art und Weise (und möglicherweise viel schlimmer) rassifizierte Menschen, die der Kriminalität verdächtigt oder gleich von der Polizei schikaniert werden. Sie zitiert den afroamerikanischen Schriftsteller Teju Cole: „the Black flâneur is an impossibility under white supremacy“ (Seite 95).
Leslie Kern schreibt außerdem über Protest in der Stadt, ihre Beteiligung am Widerstand gegen den G20-Gipfel im Jahr 2010, die sie aufgeben musste, um ihre Tochter aus der Kita abzuholen. Und sie schreibt über Angst:
„Fear restricts women’s lives. it limits our use of public spaces, shapes our choices about work and other economic opportunities, and keeps us, in what is perhaps an actual paradox, dependent on men as protectors. This all works to prop up a heteropatriarchal capitalist system in which women are tied to the private space of the home and responsible for domestic labour within the institution of the nuclear family. It’s a system that benefits men as a group and upholds the status quo very effectively.“
Seite 148
Natürlich endet das Buch nicht so, sondern mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Stadt der Möglichkeiten, die wir gemeinsam gestalten können, indem wir uns fragen, wie sie besser sein könnte.
Am Sonntag, nachdem ich erst ein paar Seiten des Buchs gelesen hatte, habe ich Folgendes geschrieben
viele der Situationen/Probleme, die die Autorin schildert, [sind] sehr Nordamerika-spezifisch […]. Es hat mich überrascht, wie persönlich das Buch angelegt ist, Leslie Kern beginnt z.B. mit ihrer Schwangerschaft, die ihr die Augen für die vielen Barrieren in Toronto und London geöffnet haben.
Zuckersüß 458
Das restliche Buch blieb seiner Linie treu: persönlich und recht Nordamerika-spezifisch. Ich frage mich, was eine feministische Stadt aus österreichischem/deutschen Blickwinkel bedeuten würde (abseits der Lobhudelei auf Wien), und vor allem auch, wie das feministische Land (Kleinstadt, Dorf etc) aussehen könnte. So eine Vision scheint dringend notwendig, wie z.B. dieser Text im Standard vermuten lässt: Landleben: „Es entsteht eine Abwärtsspirale, wenn Frauen abwandern“. Gleichzeitig gibt es schon einige Initiativen, die die Provinz attraktiver machen wollen, Das Buch vom Land (das ich im Januar kurz aus der Bibliothek des Mühltalhof ausgeliehen und quergelesen hatte, s. Zuckersüß 438) stellt einige davon vor.
tl;dr: Stadtplanung/Geschlecht ist ein wahnsinnig spannendes, drängendes Thema!
Leslie Kern: Feminist City: Claiming Space in a Man-Made World. Verso Books (2021), 206 Seiten.