Seit meinem letzten Bücherpost vergangenen Oktober habe ich einige Bücher gelesen, über die ich leider nie gebloggt habe, obwohl sie mir teilweise sehr gut gefallen haben (z.B. Middlesex von Jeffrey Eugenides, Half of a Yellow Sun von Chimamanda Ngozi Adichie oder der Sammelband Eure Heimat ist unser Albtraum). Ich befürchte, daraus wird auch nix mehr, weil ich mich nicht mehr genau genug erinnern kann.
Die Bücher, die ich in den letzten paar Wochen in zu-viel-Daheimbleib-Zeit gelesen habe, sollen aber nicht das gleiche Schicksal erleiden, deshalb hier vier Empfehlungen:
Save me the plums – Ruth Reichl
Dieses Buch habe ich über die NYT Book Review entdeckt, auf meine Wunschliste gesetzt und dann zum Geburtstag geschenkt bekommen.
Interessiert hatte es mich vor allem, weil Ruth Reichl eine der einflussreichsten Food-Media-Persönlichkeiten der USA war (ist?) und in diesem Buch über ihren Werdegang erzählt. Ein Ausschnitt daraus ist übrigens in dieser Folge von Radio Cherry Bombe zu hören.
Es scheint, als wäre sie wirklich in einer völlig anderen Medienwelt erwachsen und erfolgreich geworden – „einfach so“ mal mit 22 Jahren ein Kochbuch zu veröffentlichen, das einem ein paar Zeitungsjobs verschafft und offenbar ermöglicht, „einfach so“ für einen Pitch nach New York zu fliegen und dort bei einem einflussreichen Magazin vorzusprechen scheint mir in der heutigen Medienlandschaft fast unmöglich. Später, nach ihrer Karriere als Gastrokritikerin für die LA Times und die NY Times, wurde sie – ohne irgendwelche Erfahrung in diesem Bereich – „einfach so“ Chefredakteurin eines altehrwürdigen Magazins.
Eine Szene hat mich in der Hinsicht besonders irritiert. Eine Köchin aus der Gourmet-Testküche wundert sich über die Zutaten-Expertise der Chefredakteurin („I was, after all, a critic, not a cook“ S.63). Aber wie in aller Welt könnte es sein, dass jemand über Essen schreibt, ohne sich mit den Zutaten auseinanderzusetzen? Konnte man Ende der 1990er wirklich Chefredakteur_in eines Food-Magazins zu sein, ohne sich mit Warenkunde befasst zu haben?
Bei ihrer neuen Position bei Condé Nast inklusive: ein persönlicher Chauffeur, ein Büro voller Designermöbel und monatliche Spesen für Kleidung und Styling. Ruth Reichl bringt glaubhaft herüber, dass sie diese Art von Luxus nicht gewohnt war. Doch trotzdem blieb sie mir große Teile des Buchs über unsympathisch, weil sie von so unendlich vielen Privilegien schreibt, die ihr gar nicht aufzufallen scheinen. Die ganze US-Medienbubble kommt in ihrer Beschreibung als absurd glamourös herüber und Geld für Texte, Fotos, Reisen (die ganze Redaktion auf einmal Business Class nach Paris? Kein Problem!) war offenbar in völligem Überfluss da. Selbst am Ende des Buches, das vom abrupten Niedergang des Gourmet-Magazins und einer letzten Low-Budget-Reise nach Paris erzählt, ist der Ton recht herablassend:
„‚Here’s a couple hundred bucks; buy yourself an economy ticket, stay in a cheap hotel, and drink rotgut in the park.‘ How are you going to find a writer who wants to do that?“ (S.236)
„I tore off a hunk of bread and scooped up a slab of pâté. The flavor filled my mouth—trong, rustic, a pâté with conviction. ‚God, this is good.‘ As I took a bite of the crisp, salty pickle, I had a quick taste memory of the working-class France I’d known before my three-star days.“ (S.238)
Ich hatte bei Save me the plums vor allem mit ausführlichen Beschreibungen von Essen gerechnet, so ausschweifende Porträts der anderen Personen im Buch hatte ich nicht erwartet. Ein Beispiel:
„Maurie also fit so perfectly into this elegant atmosphere that the image I’d had of her instantly vanished. Blond and petite, dressed in cashmeere, tweed, and diamonds, she reminded me of a miniature poodle fresh from the groomer.“ (S.43)
Was mir auch in Erinnerung blieb, war die Szene als Ruth Reichl Jonathan Gold kennenlernte. Die Texte dieses einflussreichen Foodwriters und Musikjournalisten finde ich großartig (s. a.: The Best Jonathan Gold Reviews, From Food Writers He Inspired – Eater) und ich wäre enorm gerne dabei gewesen, als er in einem Uniseminar von seiner Arbeit erzählt (How to Write About Food: In the Classroom with Jonathan Gold – Foodaism). Ruth Reichl hält ihn am Anfang für einen sehr seltsamen Typen:
„In the mid-eighties, when I became the restaurant critic of the Los Angeles Times, I kept runnint inot the same young couple when I went out to eat. Did they, I wondered, spend all their time in restaurants? You couldn’t miss them; they were extremely conspicuous in the small Asian and Mexican restaurants they seemed to favor.
He was pale and puffy with long thinning hair and the mushroom complexion of someone who rarely sees the sun. She was tall, with golden skin, wild black hair, and a lean body that seemed to be all legs. […] They were such an improbable pair that every eye invariably swiveled toward them.“ (S74.)
Insgesamt fand ich Save me the Plums interessant, weil es einen Blick in die amerikanische Verlagsbranche und die goldenen Zeiten des Foodjournalismus erlaubte. Es liest sich locker und zwischendrin sind auch immer wieder Rezepte zu den Gerichten, von denen Ruth Reichl erzählt, eingestreut.
Ruth Reichl: Save me the Plums. My Gourmet Memoir. Random House 2019. 266 Seiten.
Margarete Schütte Lihotzky. Architektin Widerstandskämpferin Aktivistin – Mona Horncastle
Im Januar habe ich recht zufällig von der Buchpräsentation dieser Biografie erfahren und nachdem ich erklärtes Margarete Schütte-Lihotzky-Fangirl bin (s. mein Post über die „Das rote Wien“-Ausstellung) bin ich natürlich hingegangen. Das Event habe ich dann sogar in Sketchnotes festgehalten, mir aber kein Buch gekauft, weil es in dem Moment mein Budget sprengte.
Im Newsletter des Alumniverbands der Uni Wien las ich im April dann von einer Verlosung dieser Biografie – und gewann ein Exemplar, einfach so! :)
Ich habe das Buch in zwei oder drei Tagen von vorn bis hinten durchgelesen. Dabei ist mir aufgefallen, dass es wohl eher als Coffee-Table-Book zum immer mal wieder hineinlesen gedacht ist: Das ausgefallene Layout, die vielen Fotos und Zeichnungen auf rosa Seiten und die großen Zitatblöcke sind auch beim linearen Lesen sehr angenehm, die stellenweise Redundanz nicht so sehr.
Wie gesagt habe ich mich schon ein bisschen mit Margarete Schütte-Lihotzky beschäftigt. In dieser Biografie habe ich aber trotzdem enorm viel Neues erfahren, vor allem zum Kontext ihres Lebens. Margarete Schütte-Lihotzky hat in der Kaiserzeit als erste Frau in Österreich Architektur studiert, die wohl berühmteste Küche der Welt entworfen, für die Sowjetunion geplant, als Widerstandskämpferin fünf Jahre im Zuchthaus verbracht und schließlich als Kommunistin schlechtere Chancen am österreichischen Arbeitsmarkt gehabt als Ex-Nazis. Während ihrer Lebenszeit ist so viel passiert, dass heute sehr schwer vorstellbar ist. Von Lustigem…
„Das ‚Haus ohne Augenbrauen‘ wird zu einem Skandal. Die ornamentlose Architektur der Fassade – loos verzichtet sogar auf Fensterverdachungen – wird als obszön empfunden, das Haus sei ‚unanständig nackt‘ und an dem Standort gegenüber der Hofburg völlig deplatziert. Die Gegenwehr ist so massiv, dass 1910 ein Baustopp verfügt wird. Erst nachdem Loos sich zu dem Kompromiss bereit erklärt, Blumenkästen an den Fenstern anbringen zu lassen, darf weitergebaut werden. Kaiser Franz Joseph ist dennoch nicht zufrieden. Er lässt die Fenster der Hofburg zum Platz vernageln und weigert sich, die Ausfahrt zum Michaelerplatz zu nehmen, um das ’scheußliche‘ Haus nicht sehen zu müssen“ (S.44)
…zu Überraschendem:
„Eine Vermischung der Gruppen ist aus hygienischen Gründen zu vermeiden, damit sich Krankheitserreger nicht ausbreiten können – die Kindereinrichtungen in der Sowjetunion sind auch darauf ausgelegt, Kinder mit Infektionen zu beaufsichtigen und zu pflegen, um die Produktivität der Mütter aufrechtzuerhalten, die sehr häufig im Schichtbetrieb tätig sind.“ (S.91)
Wie sehr sich die Welt seit Margarete Schütte-Lihotzkys Geburt 1897 verändert hat, wie anders sie selbst in der Mitte ihres Lebens noch war, fiel mir auch bei diesem Absatz zu ihrer Chinareise 1956 auf („Flugbahnhof“!):
„Das Auge der Architektin registriert alle Details: Mit Begeisterung beschreibt sie das zweimotorige russische Flugzeug ‚mit 21 Sitzen, zwei links und einer rechts vom Gang, mit Teppichen belegt, Vorhangerln wie bei allen russischen Fenstern, innen weiß gestrichen, die Fauteuils bequem in zwei Lagen verstellbar, an der Vorderwand ist für jeden sichtbar der Höhenmesser‘. Weniger gnädig ist ihr Urteil über die Flughäfen: Schwechat findet Schütte-Lihotzky ‚primitiv und provinzialisch-spießig‘, in Budapest ist der „Flugbahnhof neu, aber unfertig, moderne Architektur im Grundriss recht gut, mit zwei Türmen aus Bruchstein, aber etwas plump gebaut‘. ‚Der Lemberger Flugbahnhof ist in den letzten Jahren gebaut und ist architektonisch entsetzlich – ein Albtraum – alles grauenhaft verziert und überladen“ (S.227)
Am Ende wirft Mona Horncastle noch einen kritschen Blick auf Margarete Schütte-Lihotzkys politische Überzeugungen, und zeigt, dass sie nicht ganz so fehlerfrei war, wie sie oft gezeichnet wird – die Verbrechen in der Sowjetunion und China übergeht sie, für die KPÖ versucht sie relativ skrupellos Genossen zu rekrutieren und hintergeht dabei Arbeitskollegen.
Mona Horncastle: Margarete Schütte-Lihotzky. Architektin Widerstandskämpferin Aktivistin. Molden Verlag, 2019. 304 Seiten, 28€.
Permanent Record – Edward Snowden
Die erste Hälfte von Permanent Record – das ich am Erscheinungstag auf meine unbedingt-lesen-Liste setzte – las sich recht zügig, irgendwann wurde es aber zäh und zum Schluss doch wieder mitreißend.
Das einigermaßen trockene Thema der Online-Privatsphäre versucht Edward Snowden mit sehr viel Einbettung in Episoden aus seiner Kindheit, Familiengeschichte (sein Stammbaum lässt sich zur Kolonialisierung Marylands 1658 zurückführen!) und die Tradition des Militärdienstes in seiner Famile („both my parents had top secret clearances“, S. 37) abzufedern. Ich finde das alles triefte vor überbordendem Patriotismus und amerikanischem in-your-face-storytelling (ich frage mich langsam, warum mich das so stört, vor kurzer Zeit erst habe ich das gleiche an einem Podcast kritisiert).
Später im Buch, als es um 9/11 geht, wird Edward Snowden in Bezug auf sein Heimatland ein bisschen differenzierter und bemerkt, dass „Terrorabwehr“ langsam zum Totschlagargument für einfach alles genutzt wird. Einmal abgesehen davon, wird von Beginn an klar, dass er vom Web, wie es heute aussieht und funktioniert, wenig hält:
„You will understand, then, when I say that the Internet of today is unrecognizable. It’s worth noting that this change has been a conscious choice, the result of a systematic effort on the part of a privileged few. The early rush to turn commerce into e-commerce quickly led to a bubble, and then, just after the turn of the millennium, to a collapse. After that, companies realized that people who went online were far less interested in spending than in sharing, and that the human connection the Internet made possible could be monetized. If most of what people wanted to do online was to be able to tell their family, friends, and strangers what they were up to, and to be told what their family, friends, and strangers were up to in return, then all companies had to do was figure out how to put themselves in the middle of those social exchanges and turn them into profit. This was the beginning of surveillance capitalism, and the end of the internet as I knew it.“
Über die Funktionsweise der amerikanischen Sicherheitsbehörden mit ihren Sub-Unternehmens-Konstruktionen, riesigen Gewinnmargen und vor allem unbegrenzten Befugnissen zu lesen, hat mir ziemliches Unbehagen bereitet. Erst recht, weil es trotz der NSA-Enthüllungen von 2013 immer noch keine Aufklärung geschweige denn Regulierung der weltweiten Massenüberwachung in Aussicht ist.
Einzelne Nutzer_innen können dagegen wenig ausrichten, solange sie nicht auf den Service der großen fünf Konzerne verzichten wollen. Selbst die Nutzung von TOR aka the onion router („makes spies want to cry“, S. 156) hilft dann nicht mehr so viel.
Aber trotzdem sollten wir alle für unsere Online-Privatsphäre kämpfen:
„Ultimately, saying that you don’t care about privacy because you have nothing to hide is no differenct from saying you don’t care about freedom of speech because you have nothing to say. Or that you don’t care about freedom of the press because you don’t like to read. Or that you don’t care about freedom of religion because you don’t believe in God. Or that you don’t care about the freedom to peaceably assemble because you’re a lazy antisocial agoraphobe. Just because this or that freedom might not have meaning to you today doesn’t mean that it doesn’t or won’t have meaning tomorrow, to you, or to your neighbor–or to the crowds of principled dissidents I was following on my phone who were protesting halfway across the planet, hoping to gain just a fraction of the freedoms that my country was busily dismantling“ S. 208f
Edward Snowden: Permanent Record. Macmillan, 2019. 340 Seiten, 14,99 Pfund.
Das Licht – T.C. Boyle
Von T.C. Boyle’s Das Licht habe ich erstmals im BR2 Zündfunk gehört und es dann auf dem Wohnzimmertisch eines Freundes liegen sehen, der es mir gleich auslieh.
T.C. Boyle erzählt zu Beginn aus der Sicht einer Laborantin von der Erfindung von LSD 1943 in Basel und der trippigen Radfahrt des Chemikers Hofmann, die als „Bicycle Day“ in die Geschichte eingehen sollte. Nach dieser Einführung startet die eigentliche Geschichte, die psychologische Erforschung der Bewusstseinserweiterung von LSD in Harvard ab 1962. Zentral dabei ist Timothy Leary, ein Psychologie-Dozent, der seine Doktoranden und deren Familien wie ein Sektenführer um sich schart – inklusive Psilocybin- und LSD-Parties. Leary wird schließlich entlassen und die Gemeinschaft zieht nach zwei Sommern in Mexiko in ein Anwesen in Upstate New York, wo sie quasi zu einer kleinen Parallelgesellschaft werden.
„Das eigentliche Problem zu diesem Zeitpunkt war der Nachschub. LSD (das „Sakrament“, wie Tim es nannte, wahlwiese auch „Himmlisches Blau“) war zwar nicht verboten, aber angesichts all der negativen Presse zum Thema Harvard und Zihuatanejo sowie der Tatsache, dass die Droge aus den Laboratorien auf die Titelseiten der Boulevardzeitungen gesprungen war, beinahe unmöglich zu bekokmmen. Sandoz zog sich zurück und verteilte keine Gratisproben mehr, sondern verlangte Geld wie für jedes andere Präparat. Tim und Dick, die sahen, woher der Wind wehte, kratzten zentausend Dollar zusammen […], doch Sandoz ließ den Scheck zurückgehen, versehen mit der kühlen Mitteilung, dieses Mittel werde zukünftig nur noch in kleinn Mengen und auschließlich an qualifizierte Forscher abgegeben, zu denen Tim und Dick offenbar nicht mehr gehörten.“ (S.236)
Ich fand den Roman enorm mitreißend, sodass ich die 380 Seiten in wenigen Tagen durchhatte. Sehr oft fragte ich mich, wie viel von der Geschichte Fiktion war. So vieles am Alltag der LSD-Gemeinschaft scheint völlig absurd, doch ein paar Wikipediaartikel lassen erahnen, dass einiges Wahres dran sein muss.
Musik spielt eine große Rolle in der Erzählung. Und irgendwer hat sich auch die Mühe gemacht und die zitierten Songs zu einer Spotify-Playlist zusammengesammelt, was ich ziemlich cool finde.
T.C. Boyle: Das Licht. Hanser, 2019. 380 Seiten, 25,70€.