„Schwein und Zeit“ – Fahim Amir

was tät ich nur ohne die Unibib

Seit ich dieses Buch vor ein paar Wochen angefangen und in der Straßenbahn, Warteschlagen, etc. Stück für Stück gelesen habe, habe ich ständig allen Leuten davon erzählt. Denn ein paar Ideen daraus waren mir völlig neu, oder bringen auf den Punkt, was mich schon länger vage beschäftigt. Außerdem kommen sehr viele STS-y Konzepte vor, worüber ich mich immer freue. Und trotz des disziplinären Backgrounds des Autors Fahim Amir (Philosoph und Künstler in Wien, so der Klappentext), fand ich es recht locker zu lesen – wobei ich auf die irgendwie bemüht wirkenden edgy Popzitate (Haftbefehl auf der ersten Seite?!) auch verzichten hätte können.

Die gut knapp 200 Seiten sind in acht recht lose verbundene Kapitel geteilt, mit so klingenden Titeln wie Friedrich Engels entschuldigt sich beim Schnabeltier, Neoliberale Bienen, Soli-Moskitos & Anarcho-Termiten oder Verkokste Veganer*innen: Politik statt Moral. Manche davon fand ich nicht ganz überzeugend, beinahe weit hergeholt, aber hier möchte ich lieber aufschreiben, was mich begeistert hat.

Die Grundthese: Tiere/die romantische Natur dürfen nicht länger als Opfer gesehen und „beschützt“ werden, sondern sind als eigenständige Akteure mit agency zu fassen, sodass echte Solidarität entstehen kann.

„Der von Klassenvorurteilen durchtränkte und kulturalistisch verbrämte Gestus der besseren Behandlung von Tieren durch bessere Menschen ist ein Erbe des Mitleid-Gedankens, der, in neue Schläuche gegossen, als Sittlichkeitsgebot zeitgenössischer Ethik in Supermarkt-Regalordnungen wiederauftaucht.“

S. 17

Im Kapitel Renitente Schweine und die Geburt der Fabrik habe ich wohl am meisten Klebepickerl angebracht. Darin zeigt Fahim Amir auf, wie die ersten Wolkenkratzer mit den Profiten aus der Chicagoer Fleischindustrie finanziert wurden, einer Branche in der die Fließbandproduktion noch vor der Autoindustrie zum Standard geworden war. Ab den 1860ern wurde Chicago so zur „Weltmetropole des Fleisches“ (S. 40).

„Allein die profitabelsten Tierteile zu transportieren statt dem Tierkörper als Ganzes, reduzierte Transportkosten und minimierte Verluste durch die lebendigen Tiere selbst: Weder gingen durch Überhitzung der Tiere beim Transport Vermögenswerte verloren, noch konnte Futterverweigerung durch die Transportierten die Profite schmälern; auch die Verletzungen durch andere Tiere während des Transports konnten so vermieden werden: „Fleisch als Geld wurde die neue und vorherrschende Gleichung.
So wurde aus dem wichtigsten Umschlagplatz für den Verkehr tierlicher Körper der größte Schlachthof der Welt. Aus der Fleischwarenherstellung, di ebis dahin normalerweise lokal und unkonzentriert war, wurde die am höchsten konzentrierte und internationalste Industrie der Welt. Der Raum biologischer Produktion und Reproduktion mit seinen temporalen und geografischen Verwerfungen wurde zum glatten Raum marktförmiger Produktion unter technowissenschaftlichen Vorzeichen“

S. 42

Und dann ist da diese Sache mit Nose-To-Tail, das auf industriellem Level erst diese enorme ~Wertschöpfung~ ermöglicht, einem Aspekt, der mir völlig neu war:

„Ein einzelnes Tier brachte also trotz aller Anstrengungen praktisch keinen Profit, auch das qualitativ beste Fleisch allein hätte zu einem Verlustgeschäft geführt. Erst die Verwertung von möglichst allen Bestandteilen und bisherigen Abfallprodukten machte in Kombination mit der millionenfachen Vervielfachung der anfallenden Mengen die Fleischbarone von Chicago zu Millionären. 
Was heutzutage gerne als Referenzfolie gegen die Verschwendung der Wegwerfgesellschaft bemüht wird – die restlose Verwendung aller Bestandteile von Tieren in kleinmaßstäblichen indigenen Gesellschaften – erweist sich bei genauerem Blick als die Logik kapitalistischer Industrie selbst, die seit ihren Anfängen über die Umwegrentabilität der massenhaften Verwertung von Abfall profitabel wurde.“

S. 42f

Nose-To-Tail scheint derzeit genauso wie Alles Bio, Demeter – in manchen Bubbles auch vegan, clean, etc – komplett hegemonial. So sehr, dass der (manchmal bloß performative!) Verweis darauf gefühlt unumgänglich ist, wenn man als Kochende_r/Essende_r was auf sich hält. Dass das Konzept hier mal nicht als ganz und gar positiv und ~natürlich~ dargestellt wird, finde ich sehr erfrischend.

Ich habe vor zwei Jahren schon mal laut über dieses Phänomen nachgedacht, als ich zufällig das Paper Making privilege palatable: Normative sustainability in chefs’ Instagram discourse (Mapes & Ross, 2020) entdeckt hatte:

Gleichzeitig scheinen mir „Foodies“ (schrecklicher Begriff, aber hier treffend, denke ich) gar nicht mehr ohne irgendeinen Verweis auf bio-regional-saisonal-blablubb veröffentlichen zu können ohne (implizit) geshamed zu werden. Ich mag nicht beurteilen, wie oft das bloßes Virtue-Signalling ist, aber oft genug kommt es mir reichlich privilegienblind und unreflektiert vor. Es erzeugt bei Betrachter_innen jedenfalls einen moralischen Druck, auch ausschließlich bio-regional-saisonal-blablubb einzukaufen. Dabei bleibt außer Acht, dass systemische Probleme wie der Klimawandel, der Rückgang der Artenvielfalt und selbst die Monopolisierung von Lieferketten eben nicht durch individuelle Konsumentscheidungen beseitigt werden können.
Und was sagt jetzt dieses Paper zum Thema?
Laut Mapes und Ross ist das Thema Food im weitesten Sinne durch Social Media populärer geworden, die Plattformen (re-)produzieren dabei soziale Abgrenzungen. Wegen seiner visuellen Natur eignet sich Instagram besonders für Köche/Köchinnen. Diese greifen – so die Analyse der Autor_innen – dort tendenziell auf Motive wie Unverfälschtheit, Natürlichkeit, Tradition usw. zurück. Auf den ersten Blick erscheint das positiv (Umweltschutz!). Erst auf den zweiten Blick wird die Status-Sicherung, Prestige-Steigerung und die Klassenproblematik, die damit einhergeht, deutlich: Die moralische Überlegenheit von ultra-regionalen, nachhaltig produzierten oder sogar wilden Lebensmitteln mit teilweise sehr aufwändiger Zubereitung muss sich eins erstmal leisten können. Im Hintergrund all dessen steht außerdem das spätkapitalistische Marketing, das hauptsächlich durch symbolischen Wert funktioniert und das individualisierte, sich ständig kontrollierende neoliberale Selbst.

Zuckersüß 403

Mit Klassenbewusstsein – und Marx – geht es auch in Schwein und Zeit weiter, Fahim Amir argumentiert, dass die Schweine in den Prozessen der Fleischindustrie durchgehend Widerstand leisten, über den Tod hinaus. Denn „Keine Maschine war in der Lage, ein nicht normierbares Tier zu töten und zu zerlegen – menschliche Augen und menschliche Hände waren unabdingbar“ (S. 45). Er fordert, die Handlungsmacht der Tiere ernstzunehmen, analog zur Provinzialisierung Europas durch Dipesh Chakrabarty:

„Epistemisch vergleichbar mit den Kolonisierten sind Tiere nicht nur das Opfer, sondern auch Täter*innen: Tiere sind nicht nur Objekte menschlicher Zurichtung unter kapitalistischen Vorzeichen, sondern auch biosoziale Entitäten, deren Geschichte und Kämpfe mit denen der Menschen auf vielerlei Weise verbunden sind. In kritischer Solidarität mit dem Projekt einer Dekolonisierung des Denkens geht es um nichts weniger als ihre Fortsetzung: die Provinzialisierung des Menschen.“

S. 53f

Beim Kapitel über Tauben überzeugte mich die Argumentation stellenweise nicht ganz, allerdings fand ich die geschichtlichen Aspekte wieder ziemlich interessant. Als ich ein Kind war, hing bei Verwandten ein altes Comic-Kalenderblatt, auf dem einem Mann gebratene Tauben in den Mund flogen – als Paradiesvorstellung. Warum das das Paradies sein sollte, konnte ich nie nachvollziehen, allerdings bin ich ja auch in einer Zeit der Hendl-Massentierhaltung groß geworden, und nicht in der des Tauben-Essens (wobei, dieses Jahr habe ich bei i tigli schon Taube auf Pizza gegessen!).

Pizza mit Taubenbrust bei i tigli in San Bonifacio

Fahim Amir nennt die Zahl 750.000, so viele Tauben wurden um die Jahrhundertwende in Wien im Jahr gegessen, mit dem Wirtschaftswunder und der durchindustrialisierten Landwirtschaft wurde die Taube als Nahrungsmittel irrelevant und damit auch langsam das zugehörige Schlaraffenland. Noch ein interessanter Aspekt (wobei die Heilige/Hure-Sache sehr weit hergeholt wirkt):

Die deutsche Sprache kennt die politisch motivierte Verdopplung der Taube in ‚dove‘ und ‚pigeon‘ nicht. Das konzeptuelle Zwillingsgestirn von guter (dove) und böser Taube (pigeon) hingenen müsste zumindest bekannt vorkommen – sie lässt an das vergeschlechtlichte Paar ‚Heilige‘ und ‚Hure‘ denken.
Die sorgsame Parzellierung der weder genetisch noch zoologisch unterschiedbaren zwei Taubenformen lässt das Wirken sozialer Technologien vermuten: Die weiße Taube des Friedens, der Sanftmut, der Monogamie und der Folgsamkeit gehört zu Staatsakten, Friedensschlüssen und Hochzeiten. Mit der nicht-weißen Stadttaube ist hingegen kein Staat zu machen, sie erscheint als ‚Kanakin‘ bzw. ‚Tschusch‘ der urbanen Tierwelt, deren aggressiver Kot nationale Kulturdenkämler zu zersetzen droht und die nirgends dazugehört – weder passt sie zu konventionellen Vorstellungen natürlich schöner Wildheit noch zu servil gedachter Nutztierhaltung. Deshalb ist ihr der neuerdings artgerechte Prozess zu machen – am besten ‚ökologisch‘ mit halbverbeamteten Falken im Dienst kommunaler Stadtverwaltungen.“

S. 93

Die Einschätzung der Biene als neoliberal fand ich ziemlich lustig:

„Als ökokapitalistisches Lieblingstier eignet sich die Honigbiene nicht nur, weil sie in der Lage ist, die Sorge um das Überleben auf dem Planeten mit landwirtschaftlichen Interessen zu verbinden, sondern auch, weil sie ein reichhaltiges metaphorisches Gepäck als arbeitsteilig organisierte und fleißige Produzentin medizinisch wertvoller Genuss- und Nahrungsmittel mitführt und darüber hinaus Metropolen mit globaler Ökologie verbindet. Aktuell werden Bienen von zunehmend vielen Neulingen auf dem Gebiet der Imkerei ‚als trendige urbane Haustiere, die gehegt und gerettet werden sollen‘ geschätzt.
Mit Natur im traditionellen Sinn hat die Honigbiene wenig zu tun: Es handelt sich im Regelfall um Zuchtlinien, die in rationalisierten Magazinbeuten, so der Name für die vom amerikanischen Imker und Geistlichen Lorenz L. Langroth entwickelte Bienenbehausung, gehalten werden.“

S. 98

Apropos Bienenzucht, vor ein paar Monaten habe ich eine NYT-Reportage dazu verlinkt: What’s the Correct Color of Bees? In Austria, It’s a Toxic Topic, außerdem musste ich an ein paper denken, das ich in meinem ersten MA-Semester gelesen habe. Be(e)coming experts: The controversy over insecticides in the honey bee colony collapse disorder von Suryanarayanan und Kleinman (2013) beschäftigt sich mit der Frage, wessen Wissen im Umgang mit dem Bienensterben wertgeschätzt wird und weshalb.

Aber zurück zu Schwein und Zeit. Im vorletzten Kapitel bricht Fahim Amir noch eine Lanze für das Vergnügen von Tieren. Vögel, die wegen angereicherten Hormonen im Abwasser ganz neue Gesangsmuster entwickeln (und ihre Chancen beim Balzen erhöhen!) oder hypothetische Druffi-Ratten in der Kanalisation unter Berliner Clubs zum Beispiel. Natur und Kultur sind untrennbar verwurschtelt, und Menschen sollten sich nicht herausnehmen, das wieder „rückgängig“ machen zu wollen, findet Fahim Amir:

„Zu lange haben ordnungsverliebte Öko-Polizist*innen aus der Natur einen moralischen Garten gemacht. Die Nestbaupraktiken mexikanischer Vögel und die hormongesättigten Gesänge britischer Vögel durchkreuzen die ordnungspolitischen Kontrollphantasien ökomoralisch reiner Räume und biomoralisch reiner Körper. Natur ähnelt eben mehr einem Punkrock-Konzert oder einer Electro Shaabi Party als der Hausordnung eines Freizeitresorts in Dubai.“

S. 145

Zu Vogelnestern aus Vogelabwehr-Materialien habe ich neulich auch was verlinkt, btw: Cities Use Spikes to Keep Birds Away. Birds Are Using Them in Nests – Scientific American.

Zum Schluss geht es dann noch um ~verantwortungsbewussten~ Konsum (ein Bullshit-Konzept)…

„Für den zartbesaiteten Bourgeois kommt dadurch ein weiteres Kriterium dazu, nach dem er seine Genussmittel aussuchen kann -nachhaltige Fairness. Innerhalb der Logik des korrekten Konsums gilt, dass ökonomisch Bessersituierte den Verdammten dieser Erde potenziell auch moralisch überlegen sind.“

S. 151

…und um Vegetarismus und Veganismus, der sich eben nicht in dieser moralischen Überhöhung begründen sollte, so der Autor. Stattdessen fasst er diese Lebensweise als „exzessiven, praktischen und symbolischen Bruch“ mit den Logiken der gegenwärtigen Verhältnisse.

tl;dr: Schwein und Zeit bringt (für mich!) viele neue Aspekte in die Frage um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier und Essen, und ist dabei durchgehend unterhaltsam. Das Buch hat mich sicherlich nicht wieder zur 100%igen-Vegetarierin gemacht, aber mir einen Haufen Stoff zum Nachdenken gegeben.


Zitierte Papers:

Mapes, G., & Ross, A. (2020). Making privilege palatable: Normative sustainability in chefs’ Instagram discourse. Language in Society, 1-25. doi:10.1017/S0047404520000895

Suryanarayanan, S., & Kleinman, D. L. (2013). Be(e)coming experts: The controversy over insecticides in the honey bee colony collapse disorder. Social Studies of Science, 43(2), 215–240. https://doi.org/10.1177/0306312712466186


Fahim Amir: Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte. Nautilus Flugschrift (2018), 208 Seiten.



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Seit 2009 veröffentliche ich hier wöchentlich Rezepte, Reiseberichte, Restaurantempfehlungen (meistens in Wien), Linktipps und alles, was ich sonst noch spannend finde. Ich arbeite als Podcastproduzentin und freie Kulinarikjournalistin. Lies mehr über mich und die Zuckerbäckerei auf der About-Seite.

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