Im vergangenen Semester habe ich im Rahmen meines STS-Studiums an der Uni Wien ein Seminar zu Wissenschaftskommunikation und Aktivismus belegt, geleitet von Sarah Davies (Professorin für Technosciences, Materiality & Digital Cultures) und Andrea Schikowitz (Post-Doc Universitätsassistentin im Bereich Knowlege Practices & Infrastructures). Es war sehr praktisch orientiert und beinhaltete zwei Exkursionen. Einerseits ins MetaLab, genauer das Mach’s Auf-Projekt, das Makerspaces zugänglicher und barrierearmer machen will, andererseits ins vorübergehende Hauptquartier von Fridays for Future Vienna, in dem die Gruppe ihre Banner und Protestschilder aufbewahrt. Außerdem hat uns eine Aktivistin der „Erde brennt“-Hörsaalbesetzung für ein ausführliches Q+A besucht.
Wir Studierende mussten viele Aufgaben erledigen, und das, was ich hier schreibe, ist tatsächliche eine davon – ein Blogpost über eine aktivistische Initiative meiner Wahl (ich hatte ihn, wie in meinem ganzen Studium vorgesehen, auf Englisch abgegeben und jetzt endlich übersetzt, weil wenn ich schon mein eigenes Blog habe, kann ich den Text auch *echt* veröffentlichen). Die unter euch, die mein Blog schon eine Zeit lang lesen, haben wahrscheinlich mein immer größer werdendes Interesse am Stricken und anderen fiber arts schon bemerkt: Ich stricke selbst die ganze Zeit (manchmal häkle ich auch), ich habe mal eine 25-minütige Ö1-Sendung übers Stricken als gesellschaftliches Phänomen gestaltet und habe mich außerdem in einigen Uni-Aufgaben damit beschäftigt (z.B. habe ich die Eigenheiten von ravelry als Social Network für ein Seminar zu digitalen Methoden untersucht).
Als ich also eine aktivistische Initiative für diese Aufgabe aussuchen sollte, dachte ich als allererstes an Datenvisualisierung in gestrickter Form, speziell sich verändernde Temperaturen in Zeiten der Klimakrise. Dabei werden üblicherweise entweder tatsächliche Außentemperaturwerte oder die Abweichung vom langjährigen Temperaturdurchschnitt eines bestimmten Ortes mit bestimmten Farben illustriert.
Tempestry Project
Das Tempestry Project ist wohl eines der bekanntesten künstlerisch-aktivistischen Projekte in diesem Bereich. Es wurde 2017 gestartet, um US-amerikanische Klimadaten in langlebigen Textilien festzuhalten, da die Online-Verfügbarkeit der Daten durch die Trump-Regierung gefährdet war. Der Name ist ein Kofferwort aus temperature und tapestry (Wandteppich). Das Projekt begann in einem kleinen Wollgeschäft in Washington State, einer Region, die wirtschaftlich stark von der Ölindustrie abhängig ist, mit dem Ziel „ganz nebenbei“ einen Diskurs zur Klimakrise anzuregen. Die „New Normal Tempestries“, wie die Gruppe ihre gestrickten Datenvisualisierungen nennt, sind methodologisch and die „warming stripes“-Visualisierungen von Ed Hawkins angelehnt. Sie zeigen Temperaturabweichungen in bläulichen (kälter als im langjährigen Durchschnitt) oder rötlichen (wärmer als im langjährigen Durchschnit) Farbtönen. Mittlerweile hat sich die Idee dank des Internets in den USA und auf der ganzen Welt verbreitet – von kleinen privaten Strickrunden bis hin zu Institutionen, die „tempestries“ in Auftrag geben und Museen, die sie ausstellen. This is colossal hat ein ausführliches Interview mit Emily McNeil und Asy Connelly, Gründerinnen des Tempestry Projects veröffentlicht.
Planet A
Durch herumgooglen konnte ich im Jänner leider keine ähnliche Initiative in Österreich finden, also habe ich ein bisschen in der Community herumgefragt. Zu meiner großen Überraschung erzählte mir Kathi Wessely vom Woll-Habitat (1180), dass sie in Kürze in Zusammenarbeit mit Designerin Susanne Sommer aka sosu ein Knitalong zur Klimadatenvisualisierung starten wolle. Das Projekt „Planet A“ startete im Februar und läuft bis Ende des Jahres. Es geht darum, einen #climatechangeshawl zu stricken oder häkeln und damit die Temperaturdaten der ZAMG des eigenen Wohnorts festzuhalten. Temperaturen, die kühler sind als der langjährige Durchschnitt, werden in Farbtönen von grün-blau bis helltürkis dargestellt, Temperaturen, die wärmer sind als der langjährige Durchschnitt von gelb über orange bis tiefrot. Alle Teilnehmenden sind angehalten, ihren Fortschritt und die Temperaturabweichungen am gewählten Ort auf Social Media zu teilen.
Per E-Mail habe ich Kathi Wessely gebeten, mir ein bisschen über den Hintergrund des „Planet A“ – Knitalongs zu erzählen. Sie schrieb mir, dass sie schon jahrelang internationale Berichterstattung zur Klimakrise verfolgt (die österreichische Medienlandschaft schafft es in ihren Augen nicht, die Dringlichkeit des Themas zu transportieren), und weil ihr Bruder in der Klimaforschung arbeitet, taucht das Thema auch in Alltagsgesprächen immer wieder auf. Sie betonte, dass es bei diesem Projekt um mehr als nur das Stricken geht, nämlich darum, sich beständig mit den steigenden Temperaturen zu beschäftigen und mit anderen darüber zu reden. „Und dann ist natürlich die Hoffnung, dass viele der Teilnehmer*innen ein paar Möglichkeiten zum Klimaschutz ergreifen (dazu soll es auch regelmäßig Infos auf der Website geben), schließlich soll es ja um Veränderung gehen und nicht darum, ein neues Tuch zu haben“.
Kathi Wessely sieht sich dabei nicht als Aktivistin per se, doch „Wenn Aktivistinnen Personen sind, die Aktionen zur Verbesserung der Welt ergreifen und andere dazu motivieren, mitzumachen, dann sind wir wohl welche.“ Das Internet spielt eine wichtige Rolle bei ihrem Projekt, weil sich die Zielgruppe nicht auf einen bestimmten Ort konzentriert (was in dem Fall ja gar nicht so schlecht ist, dann wird nämlich ein Datenvergleich per Tuch möglich). Instagram soll den Teilnehmenden durch die Hashtags #KnitPlanetA bzw. #KlimawandelTuch ein Gemeinschaftsgefühl geben, das Knitalong wird außerdem in einer Ravelry-Gruppe begleitet. Es soll auch ein Offline-Treffen in Wien geben, bei dem dann gemeinsam am „Planet A“-Tuch gestrickt und gehäkelt wird.
Ich werde definitiv eines Anschlagen (Januar und Februar kann ich hoffentlich noch schnell genug aufholen!) und die Person, die es tragen wird, hat dafür im Wollhabitat schon eine Farbpalette zusammengestellt (s. Titelbild), meinen Fortschritt dokumentiere ich dann bei ravelry.
Update, März 2024
Mein Klimawandeltuch ist nun fertig (hier mein ravelry-Projekt inkl. genauer Temperaturen/Farben). Ich habe mich auf die ZAMG-Daten von St. Pölten im Zeitraum von 1961-2020 gestützt und die Abweichung zum jeweils monatlichen Durchschnitt farblich abgebildet. Das Ergebnis ist nun doch bedrückender als erwartet: Im Januar und September waren es gerundete 4°C mehr, im Februar, März und August +2,5°C. Die einzigen Lichtblicke in kühleren Farben und Temperaturen waren April (-1,5°C, waldgrün) und Mai (graugrün), der dem Durchschnitt entsprach. Aufs ganze Jahr gerechnet war 2023 um satte 2,26°C heißer als der Durchschnitt 1961-2020.
Ich habe das Klimawandeltuch verschenkt, weil ich selbst *eigentlich* keinen Schal brauche. Aber ich bin jetzt auf den Geschmack gekommen und werde mir wohl für Wien 2024 einen eigenen Stricken, das Knitalong ist nämlich auch wieder von neuem gestartet!