„Babel“ – R.F. Kuang

nicht unbedingt ~leichte~ Strandlektüre

An meinem ersten Urlaubstag war ich auf eine Matcha-Latte im Kanopi (1180), eines der neu eröffneten, milde hipster-gentrifizierenden Lokale auf der Währinger Straße, das nun auch eine Buchabteilung hat. Und zwar eine, die so sehr mit meiner losen will-ich-mal-lesen-Liste (die btw genauso unbezwingbar ist wie meine Lokale-in-denen-ich-essen-will-Liste), übereinstimmt, dass ich es fast nicht glauben wollte: In den Regalen stehen – in Originalsprache – Ursula K Le Guin, Ed Yong, Merlin Sheldrake, Susan Sontag, und eben R.F. Kuang’s Babel.

Das nahm ich mir gleich als Urlaubslektüre mit, und mehrere Leute in meinem Umfeld meinten sogleich, dass das eine gute Idee war, auch wenn ich sonst eigentlich kaum Fantasy-lastiges lese. Zitat: „Ein Buch in dem das Magiekonzept auf Linguistik und Translation basiert, müsste dir liegen“.

Dieses Fantasy-/Magie-/Spekulationselement in der Handlung sind sogenannte silver works, die das britische Empire zu seiner Vormachtsstellung gebracht haben und am Laufen halten. Silberbarren (selbstverständlich mit Rohstoffen aus den Kolonien) werden von Übersetzer_innen (auch aus den Kolonien, aber ~zivilisiert~) mit Wortpaaren aus zwei verschiedenen Sprachen graviert. Das, was lost in translation ist, wird zur magischen Kraft. So werden Kutschen schneller, Fundamente stabiler, Partybeleuchtungen beeindruckender, aber natürlich auch Kriegswaffen zerstörerischer, Gefängnisse brutaler.

„London had accumulated the lion’s share of both the world’s silver ore and the world’s languages, and the result was a city that was bigger, heavier, faster, and brighter than nature allowed. London was voracious, was growing fat on its spoils and still, somehow, starved. London was both unimaginably rich and wrechedly poor“

Babel, S. 21

Die Hauptfigur Robin – sein chinesischer Name wird nie ausgesprochen – ist Sohn einer armen kantonesischen Alleinerziehenden, der aber dennoch, aus unklaren Gründen, eine Hauslehrerin und viele englischsprachige Bücher zur Verfügung hat. Als er im Volksschulalter ist, wütet eine Infektionskrankheit. Um ihn herum sind bald alle tot, auch er erliegt beinahe dem Fieber – bis ihn ein englischer Professor mit einem magischen Silberbarren rettet. Er nimmt ihn mit nach Großbritannien und drillt ihn jahrelang mit Latein und Altgriechisch, um ihn dann 1836 ans Translationsinstitut in Oxford – wo er selbst arbeitet – zu schicken, und zum silver-works-Übersetzer mit Fokus aufs Kantonesische auszubilden.

Dort lernt Robin seine kleine Kohorte kennen, Rami aus Indien, Victoria aus Haiti und Letty, Tochter eines britischen Offiziers. Die vier werden allerbeste Freund_innen, durchstehen Prüfungsstress und das schlechte Essen an der Uni. Lange bleiben ihre verschiedenen Ausgangspositionen, ihr stark unterschiedlicher gesellschaftlicher Status nur unterschwellig ein Thema – Rami und Victoire gehen anders als Robin nicht als weiß durch, und Letty ist sich ihrer Privilegien am allerwenigsten bewusst – bis es zum Bruch kommt. Denn einige am Translationsinstitut wollen die koloniale Ausbeutung und Unterwerfung ihrer Heimatländer nicht länger unterstützen und trommeln zum Widerstand.

„‚How does all the power from foreign languages just somehow accrue to England? This is no accident; this is a deliberate exploitation of foreign culture and foreign resources. The professors like to pretend that the tower is a refuge for pure knowledge, that it sits above the mundane concerns of business and commerce, but it does not. It’s intricately tied to the business of colonialism. It is the business of colonialism“

Babel, S. 102

Die ganze Geschichte ist ziemlich konzeptuell, ich hatte das Gefühl, die Autorin will uns Leser_innen sowohl was über Übersetzungswissenschaft beibringen als auch über die chinesische Sprache und vor allem über britische Kolonialgeschichte und postkoloniale Theorie. Letzteres ließ dem Roman ab dem zweiten Drittel an vielen Stellen durchschaubar werden, weil die Handlung sehr stark an den jeweiligen Identitäten der Figuren hängt – es ist gar keine Überraschung wer sich gegen die Widerständigen wendet, oder wer sich ihnen anschließt.

„‚This is how colonialism works. It convinces us that the fallout from resistance is entirely our fault, that the immoral choice is resistance itself rather than the circumstances that demanded it“

Babel, S. 499

Was mich als Kulinariknerd auch ein bisschen genervt hat, waren die Beschreibungen des Essens, die Stellen kamen mir manchmal vor wie copy-paste, und überhaupt schlangen die Figuren ihre Mahlzeiten immer nur so herunter.

Aber dennoch: Mitreißender Roman, tatsächlich die Art von Fantasy/Magie/Spekulation, die mir liegt!

R.F. Kuang: Babel, Harper Voyager (2023), 546 Seiten.



Hi, ich bin Jana.
Seit 2009 veröffentliche ich hier wöchentlich Rezepte, Reiseberichte, Restaurantempfehlungen (meistens in Wien), Linktipps und alles, was ich sonst noch spannend finde. Ich arbeite als Podcastproduzentin und freie Kulinarikjournalistin. Lies mehr über mich und die Zuckerbäckerei auf der About-Seite.

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Im Zuckersüß sammle ich (fast) jeden Sonntag meine liebsten Links der Woche: Rezepte für die Nachback-Liste, lesenswerte Blogposts, Zeitungsartikel und Longreads, Podcasts oder Musik, die mir gerade gefällt und oft genug auch Internet-Weirdness. Außerdem schreibe ich auf, was ich sonst so interessant fand: neue Rezepte in meiner Küche, Lokale, in denen ich gegessen, Pullover, die ich gestrickt oder Texte, die ich geschrieben habe.