Im Sommer schon hat mich Diagonal-Producer Peter Waldenberger gefragt, ob ich nicht an einer Sendung zum Thema Konditorei mitwirken wolle, „irgendwann im Herbst“. Nein sagen konnte ich da natürlich nicht, und so kam es dazu, dass ich einen Beitrag über die Kulturgeschichte gestalten sollte.
Das war letztlich viel schwieriger, als ich dachte, denn ich habe kaum Literatur zur Kulturgeschichte der Konditorei im Allgemeinen gefunden, nur über einzelne regionale Spezialitäten oder einflussreiche Betriebe. Ich las mich also quer durch alles mögliche, was nur irgendwie mit Kulinarikgeschichte und Kuchen zu tun hatte, und stieß glücklicherweise irgendwann auf Sweet Invention. A History of Dessert von Michael Krondl. Der New Yorker Ernährungshistoriker verfolgt auf den fast vierhundert Seiten Süßspeisen von Indien, wo Zucker ab 500 v. Chr. kultiviert wurde, über den mittelalterlichen mittleren Osten, das Italien der Rennaissance, Frankreich unter Sonnenkönig Ludwig XIV., bis nach Österreich im 19. Jahrhundert. (Und in die USA, aber das Kapitel dazu habe ich aus Zeitmangel ehrlicherweise nicht mehr gelesen).
Was mit „Dessert“ überhaupt gemeint ist, ist je nach Küchentradition unterschiedlich, meinte Michael Krondl im Interview: „Each culture sees sweet foods and puts them in a different category: In the US, where I’m based, most breakfast cereals have more sugar in them than any Torte in Vienna, but they’re not dessert. Pancakes with maple syrup all over them are a sweet food that is specifically eaten for breakfast in the US. But when I was growning up in what is now the Czech Republic, we would eat pancakes for supper“. Das erklärt vielleicht, warum eine globale (oder zumindest länderübergreifende) Kulturgeschichte der Konditorei so schwierig zu fassen ist, die Begriffe und Konzepte lassen sich nicht immer über sprachliche Grenzen oder Epochen übertragen. Ein Beispiel: Ein Croissant in Frankreich gehört zur Viennoiserie, nicht zur Pâtisserie, während technisch recht ähnliches Plundergebäck in Österreich schon der Konditorei zuzuordnen wäre. Und:
Was heute in Wien oft als Nachspeise angeboten wird – unter anderem Powidltascherln, böhmische Dalken, Mohn- und Nussbeugel, diverse Strudel, Palatschinken, Mehl- und Kaiserschmarren, Obstknödel etc. – war als Mehlspeise Teil des bürgerlichen Mittagsmenüs oder Beigabe zum Kaffee.
„Die Wiener Küche. Eine Kulturgeschichte“ – Ingrid Haslinger (mandelbaum), S. 140
Nebenbei bemerkt passt diese Frage auch ganz gut zu diesem Blog, denn wenn mich wer fragt, was ich hier eigentlich mache, bin ich unschlüssig: Backen? Meistens, nicht immer. Süßes? Meistens, nicht immer. Mehlspeisen? Meistens, nicht immer. Dessert? Manchmal, jedenfalls so wie ich es verstehe.
Unabhängig von Definitionen sind Desserts historisch besonders interessant, findet Michael Krondl, denn weil Zucker lange so teuer war, ließ sich damit gesellschaftlicher Status anzeigen. Wer es sich leisten konnte, süßte ALLES damit, eine Trennung zwischen Süßspeisen und allen anderen Gerichten gab es nirgendwo: „In the middle ages and rennaissance, there was no dish without sugar. Wanted to make fish pie? They would cover it in sugar. Not a tablespoon or two, but a cup of sugar! You’d have meat pies sprinkled with sugar. You can find something similar today in Moroccan cooking, this sweet savory thing called Bastilla which is a pigeon pie sprinkled with sugar.“ (2015, als ich in Marokko gelebt habe, habe ich ein Rezept dafür veröffentlicht, allerdings mit Hühnerfleisch, das viel weiter verbreitet ist als Bastillafüllung als Taube).
Durch enge Handelsverbindungen zwischen dem Mittleren Osten und Italien, das in Kunst, Kultur und Kulinarik in dieser Epoche tonangebend war, gelangte immer mehr Rohrzucker nach Europa. Der wurde bei Banketten, die vor allem Eindruck schinden sollten, zu prächtigen Skulpturen geformt. In Venedig gab es viele Meister dieses Fachs, oftmals Engadiner Abstammung, wie im Beitrag Diana Pedretti vom Kulturarchiv Oberengadin erklärt – dort war ich allerdings nicht selber, dieses Gespräch hat meine Kollegin Sonja Bettel geführt.
Der Trend mit den Zuckerskulpturen schwappte im 16. Jahrhundert auch nach Österreich, wie mir Historikerin Marlene Ernst von der Uni Passau telefonisch erzählte. Sie hat als Dissertationsprojekt eine Datenbank für historische Rezepte erstellt, eines davon wurde von einer Sprecherin für meinen Beitrag eingelesen, es klingt superlustig:
Nimb zimblich .Vüll Clein gestossnen* Zuckher, / daß weiß von ainem ayr*, vnd ain Löfeluol / Lemoni* safft*, vnnd ein wenig rossen / Wasser, riehr* dises alles woll Vnder einander, / vnnd biß der Zuckher Vesst würdt, wan er / Vesst ist, so leg ihn in ein Merscher*, / vnnd stoss* ihn zu einem Vessten taig*, dar= / nach Kanst du Pastätten oder Dortten darauß / machen, was du wilst, da Kanst du es / von halb mehl vnd von halb zuckher machen. / nach Deinem belieben. So ist er, recht guett,
„Zuckher taig Zum Dortten“, in: Das Kochbuch der Ursulinen (1716), Torten Nr. 07
Rezepte von damals haben nicht unbedingt viel Ähnlichkeit mit heutigen, weder in Form noch Inhalt. Die ersten Linzer Torten waren nicht zwingend mit Himbeermarmelade gefüllt, sondern mit den Früchten, die gerade zur Hand waren. Ursprünglich wurde der Teig meist mit Mandeln gemacht, die später durch die günstigeren (weil lokal verfügbaren) Haselnüsse ersetzt wurden.
Das Privileg, Zucker zu verkaufen, lag in der Gegend, die heute Österreich ist, noch bei den Apothekern, die ihre Medizin damit süßten, erzählte Kurt Schebesta von der Wiener Lebensmittelinnung. Ihn konnte ich aufgrund unerwarteter Komplikationen (corona, hust) leider nicht im 1897 erbauten Haus der Wiener Bäcker, wo auch das Archiv des Berufsverbands untergebracht ist, interviewen, sondern nur per Zoom. Er hat jedenfalls etwas angesprochen, bei ich mir dachte, Wie kann ich davon noch nie gehört haben? Ich betreibe seit beinahe 13 Jahren unter dem Titel ein Blog??: „Dieses Wort Bäcker in Zuckerbäcker ist eigentlich ein bisschen verwirrend, weil das hat mit Backen im Sinne eines brotbackenden Bäckers gar nix zu tun. Das hängt mit dem Zusammenpacken der Zuckerkristalle [in Zuckerhüte] zusammen“. Die Wiener Zuckerbäcker gründeten 1554 ihre erste Standesvertretung und „schluckten“ in den nächsten Jahrhunderten eine ganze Reihe von teilweise längst vergessenen Berufen: Hohlhipper, Oblatenbäcker, Krapfenbacher und Lebzelter.
Im aristokratischen Frankreich bildeten sich indessen unter Sonnenkönig Ludwig XIV. neue Speiseabfolgen heraus, es kam in Mode à la russe zu speisen. Dabei wurden nacheinander drei Buffet-artige Gänge serviert. Gegen Ende wurden die süßen Gerichte immer mehr, genau wie Käse und Obst. Zwischen dem zweiten und dem dritten Gang wurde abserviert, auf Französisch desservir – daher der Begriff Dessert. Ein paar Jahre vor der französischen Revolution fielen die strengen Regeln, die den Arbeitsbereich von Köchen, Confisseuren und Pâtissiers bis dahin trennte. Die Konditoreikunst konnte sich frei entfalten und spätestens jetzt wurde Frankreich zum neuen kulinarischen Tonangeber in Europa, so Michael Krondl.
In Österreich sollte sich die Einteilung in Brot-Bäcker und Zuckerbäcker beziehungsweise Konditoren noch mehr als zweihundert Jahre lang halten, so Kurt Schebesta: „Man hat sie auch als die feindlichen Brüder bezeichnet. Torten durfte ursprünglich nur der Bäcker machen, weil Mehl drinnen ist, aber durch den Zucker ist die Tortenentwicklung in Richtung der Zuckerbäcker gegangen, und das hat natürlich immer wieder zu Streitereien geführt.“ Michael Krondl ist überzeugt, dass diese Konflikte für die große Vielfalt an Nussgebäck unter den Wiener Mehlspeisen verantwortlich sind.
Im 19. Jahrhundert wurde Wien zum europäischen Zentrum der Konditoreikunst. Denn hier kamen Einflüsse aus Italien, aus dem osmanischen Reich, Frankreich und Spanien zusammen. Die bäuerlichen Mehlspeisen aus den Kronländern, Kolatschen, Buchteln und so weiter, trafen auf die importierte französisch-aristokratische Patisserie und die heimische bürgerliche Zuckerbäckerei – eine „Explosion der Kreativität“ in allen schönen Künsten, nannte es Michael Krondl im Interview. Außerdem war Zucker in dieser Zeit plötzlich viel leichter verfügbar und weit günstiger. Denn er wurde nicht mehr hauptsächlich aus Zuckerrohr aus Sklaven-Plantagen in Übersee hergestellt, sondern aus Zuckerrüben, die im ganzen Habsburgerreich angebaut wurden.
Bis der Streit um die Torte zwischen Bäckern und Konditoren in Österreich beigelegt wurde, sollte es übrigens noch bis 1997 dauern. Erst dann trat die Gewerbeordnung in Kraft, die Bäckern erlaubt, auch süße Mehlspeisen herzustellen.
Literatur/Links:
- „Sweet Invention. A History of Dessert“ – Michael Krondl (Chicago Review Press)
- „Wie man die Linzer Dorrten macht“ – Waltraud Faißner (edition M Bibliothek der Provinz)
- „Die Wiener Küche. Eine Kulturgeschichte“ – Ingrid Haslinger (Mandelbaum Verlag)
- „Wedding Cakes and Cultural History“ – Simon R. Charsley (Routledge)
- „Kulturgeschichte der österreichischen Küche“ – Peter Peter (C. H. Beck)
- „A Thousand Years of Sugar Sculpture“ – A Sweet Spot (Michael Krondl)
- „The Way The Cookie Crumbles“ – Gastropod
- „The Hard-Won Pleasures of a Yeasted Cake“ – The New Yorker (Ruby Tandoh)
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Ö1 Diagonal, 22.10.2022, 17:05 Uhr (Mein Kulturgeschichte-Beitrag: 17 Minuten)